Freitag, 18. Juni 2021
I was born to run, I don't belong to anyone
Letzten Freitag

Ich habe seit Oktober keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr betreten. Als ich eine Stunde lang auf die Bahn warten musste, wusste ich auch, warum ich das nicht bereute.
Ich traf mich mit Ina und Vroni im Park. Genau wie letztes Jahr nach der ersten Welle. Ich war etwas überfordert mit den vielen Menschen, die ich sah. Ich musste mir zuvor auch einen Tritt in den Hintern geben, um überhaupt in den Park zu fahren. Ich wollte meine Freunde sehen und einen schönen Abend haben. Aber ich wollte nicht aus meiner sicheren Komfortzone heraus. Jedoch wusste ich, dass das genau das war, was ich brauchte. Was mir gut tun würde. Ich musste mich überwinden. Also tat ich es.
Es war so ungewohnt. Ich schloss Vroni und Ina auf der Brücke in die Arme. Wir suchten uns einen schönen Platz und breiteten die Decke aus, die Ina mitgebracht hatte. Vroni war mit dem Auto gekommen, deshalb trank sie nichts. Ich öffnete mein Bier, während Ina sich Wein einschank. Wir hörten Musik, redeten und philosophierten. Vroni ist gerade sehr unzufrieden mit sich selbst, was mir in der Seele weh tut. Ich wünschte, sie könnte sich durch meine Augen sehen. Alles, was ich sehe ist Schönheit. Innerlich und äußerlich. Aber die Isolation der dritten Welle hat Spuren hinterlassen. Auch an mir. Ich bin nicht so emotional unerreichbar, wie ich es gerne wäre. Ich kann es zwar sehr gut vortäuschen, aber die Gefahr des Durchsickerns ist da. Nicht, dass ich jemals nicht mein Gesicht wahren würde. Aber ich wäre noch gerne etwas kühler. The person who cares the least wins. Und ich will gewinnen.
Irgendwann tauchte die Polizei auf und löste die großen Gruppen auf. Da wird nur drei unschuldige Personen waren, durften wir bleiben. Ich weiß nicht mehr genau, wie es dazu kam. Ich trank bereits mein zweites Bier und es zeigte seine Wirkung. Plötzlich sprachen uns zwei Typen an, deren Gruppe aufgelöst wurde. Wir redeten ein wenig und nach einer Weile fragten sie uns, ob wir mit ihnen Bierpong spielen wollten. Wir wollten. Wir gingen mit ihnen ein an den Rand des Parks, wo sie den Tisch aufbauten. Außer ihnen waren noch einige Freunde von ihnen da. Drei von denen machten eine Ausbildung zum Krankenpfleger, worüber ich mich erst einmal angeregt mit ihnen unterhielt. Diese Leute halten unser Land seit fast eineinhalb Jahren am Laufen und trotz der anfänglichen Dankbarkeit, ist die Debatte über das System und die Bezahlung der Pfleger wieder dort, wo sie vorher war: Im Hintergrund. Haben wir trotz der Pandemie gar nichts gelernt? Verschließen wir die Augen, weil das Thema belastend und schwierig ist? Was kann überhaupt eine Person tun, die nicht selbst diesen Beruf ausübt?
Wir sprachen eine Weile, dann spielten wir Bierpong. Ich mit dem einem Typ (Mati), der uns ansprach gegen Ina und den anderen Typ (Tobi). Ich warnte ihn vor, dass ich nicht gut war, aber er wollte trotzdem diese Teamkonstellation. Ich traf ein einziges Mal und das war?s auch schon. Mati hob unseren Gruppendurchschnitt glücklicherweise ein wenig, aber die Nacht wurde dunkler und dunkler und wir konnten die zwei Becher, die noch da waren, kaum noch sehen. Wir sprachen ziemlich viel. Und ich redete ziemlich viel Scheiße. Z.B. über Böhmermann, ich mobbte Österreich und wollte die ganze Zeit Ischgl-Fieber hören. Wow, wirklich wow. :D Mir war bewusst, dass diese Freundesgruppe jünger sein musste. Als Mati behauptete, er wäre 20, sagte ich:"Hey, dann kannst du ja in Island legal Alkohol trinken!"
Er:"Ich war gerade in Island."
Ernsthaft?
Es wurde irgendwann ein wenig flirty (worauf ich es definitiv anlegte). Er war etwas jünger als ich, weshalb ich die Oberhand haben würde, und durchgeimpft. Bingo. Er lachte meine kleine Daumen aus, woraufhin ich ihn boxte. Als ich einmal mit werfen dran war (wir versuchten ewig lang, einen der letzten beiden Becher zu treffen), umarmte er mich von hinten und flüsterte mir etwas ins Ohr. Keine Ahnung mehr, was er sagte, aber die Luft entwich meinen Lungen. Die Halsgegend ist sehr gefährliches Terrain. Obwohl mir einen Moment lang die Luft weg blieb, wollte ich nicht, dass er das merkt. Mit einer Sekunde Verzögerung, stieß ich ihn spaßeshalber weg. Er tat es trotzdem wieder. Und ich wollte es.
Vroni hatte den ganzen Tag gearbeitet und war dementsprechend müde. Ich hatte keine Ahnung wie spät es war, als sie mich fragte, ob es okay wäre, wenn wir nach dieser Runde heimfuhren. Ich stimmte zu. Wir gaben das Spiel angesichts der Dunkelheit auf. Vroni, Ina und ich verabschiedeten uns und gingen los.
Ina:"Hast du seine Nummer?"
Ich (völlig zufrieden):"Nö."
Er ist der Mann. Und auch, wenn er jünger ist und ich ihn verunsichere, ändere ich trotzdem nicht die Spielregeln.
Das musste ich auch nicht.
Sie riefen uns nach, wir sollten waren. Sie hatten auch ihre Sachen zusammen gepackt und mussten auf dem selben Weg nach Hause.
Einer seiner Freunde fragte mich, ob ich Matis Nummer hatte.
Ich:"Wer ist Mati?" Ich konnte mich nicht mehr an seinen Namen erinnern. Ein Mädchen lachte schallend los.
Er:"Äh, der Typ, mit dem du Bierpong gespielt hast."
Ich:"Ach so, nee."
Er:"Normalerweise kriegt es das schneller hin."
Darauf antwortete ich nichts. Ich grinste nur. Wir gingen durch die dunkle Allee. Mati war einige Schritte hinter uns, er sagte etwas zu mir. An das ich mich nicht mehr erinnern kann. Die anderen gingen vor, wir ließen uns zurückfallen.
Das eine Mädchen rief lachend:"Hey Mati, sie weiß nicht mal deinen Namen."
Ich grinste.
Er nahm meine Hand und wirbelte mich herum, sodass ich ihm gegenüber stand. Meine Hand lag auf seiner Brust, er schaute mir tief in die Augen. Ich sagte irgendetwas, lachte und schlug ihm spielerisch mit der Hand auf die Brust. Ich drehte mich um und wollte den Abstand zwischen meinen Freunden und mir verringern. Er hielt nach wie vor meine Hand und nachdem wir einige Worte wechselten, zog er mich wieder an seine Brust. Wieder sah er mir tief in die Augen. Ich grinste. Jetzt oder nie. Er nahm mein Gesicht in seine Hände und wir küssten uns. Es war gut. Er war sehr sanft, was ich nicht erwartet hätte. Mein erster Kuss seit fast eineinhalb Jahren. Und glücklicherweise kann ich sagen, dass der irrationale Oxytocinrausch, vor dem ich die ganze Zeit Angst hatte, ausblieb. Vielleicht lag es daran, dass ich mich überlegen fühlte. So, als hätte ich die Kontrolle. Ich fühlte mich vollkommen lebendig. Er konnte mir nicht gefährlich werden.
Aber viel Zeit blieb uns nicht, da Vroni meinen Namen durch den Park rief. Ich machte mich los und ging den Weg weiter. Ich glaube, er hielt immer noch meine Hand. Als wir die Gruppe wieder erreicht hatten, ging ich vor zu Ina und Vroni.
Ina:"Hast du rumgemacht?"
Ich:"Ja."
Sie:"Wie war's?"
Ich:"War gut."
Keine Ahnung, ob Mati das hörte, er war bei seinen Freunden hinter uns. Es war mir egal.
Die Straße war voller Leute. Mati hielt mich auf und fragte nach meiner Nummer. Ich gab sie ihm unter der Bedingung, keine Erwartungen zu haben. Er willigte ein. Angetrunken tippte ich die Zahlen in sein Handy, war einen Blick darauf und war mir nicht ganz sicher, ob die Nummer so stimmte. Aber es war mir egal, ich gab ihm sein Handy zurück. Er schrieb mir zur Erinnerung seinen Namen.
Gemeinsam gingen wir noch zur U-Bahn, dort trennten sich unsere Wege.
Vroni, der Engel, fuhr mich nach Hause.
Ich schminkte mich zu traurigen Taylor Swift Songs ab, die angetrunken überhaupt nicht traurig sind. Um zwei fiel ich ins Bett. Ich fühlte mich so lebendig. Ich weiß, dass es an der Anwesenheit meiner Freunde liegt und ich hoffe, dass ich dieses Gefühl aufrecht erhalten kann.
Am nächsten Tag machte ich erst einmal einen Schnelltest und einen PCR-Test, um sicher zu gehen. Ein Kuss gegen einen Test. Wie skurril. Was für eine surreale Zeit, in der wir leben.

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