Freitag, 28. Februar 2020
But I'll be alright it's just a thousand cuts
Ich habe seit einigen Tagen das Gefühl, ich würde in der Vergangenheit leben. In meiner Vergangenheit. Als wäre ich wieder 15 oder 16 Jahre alt. Unsicher, unglücklich, introvertiert, keine Lust auf Menschen. Ich drehe die Musik so laut es möglich ist, ohne schmerzhaft für meine Ohren zu sein, nur um die Leute auszublenden, um eine Barriere zwischen mir und der Welt zu schaffen. Wie damals in def Schule. Eine Barriere, die mich schützen soll. Wovor?
Der Auslöser dafür war ganz klar ein Italiener mit einem bestechendem Lächeln. Ich war auf einem wirklich guten Weg, bevor ich auf ihn traf.
Trotzdem muss ich die Schuld bei mir alleine suchen. Ich ließ es schließlich zu.
Vielleicht ist es normal, über Expartner zu reden, wenn man jemand Neues trifft. Aber nie hatte ich das Gefühl, dass meine Vergangenheit so aufgewühlt wurde wie bei ihm. Ich hatte alles hinter mir gelassen und habe mit gutem Gefühl weitergemacht.
Vielleicht war es sein ewiges Gerede über Beziehungen, vielleicht haben wir zu oft über's Betrügen geredet. Alles wurde wieder aufgewühlt. Nicht so, dass ich traurig war, aber ich dachte viel darüber nach, was in meiner damaligen Beziehung schief gelaufen ist. Ich träumte davon, die Betrugssituation war jedes Mal neu verpackt und ab und an war er in meinen Träumen gefährlich, versuchte, meine Wohnungstüre aufzubrechen.
Hatte ich es doch nicht so gut verarbeitet, wie ich dachte? Oder ist es etwas, was mich immer irgendwie begleiten wird?
Es kommen vermutlich gerade mehrere Sachen zusammen. Mit meinem Körper stimmt etwas nicht und bisher habe ich noch nicht herausgefunden, was es ist. Ich fühle mich wie festgefahren, weil ich nichtgenügend lerne. Ich renne vor meine Verantwortung weg. Mein Ego ist angekratzt, obwohl ich weiß, dass es besser so ist. Mir fehlt das Tanzen, aber ich bin noch nicht fit genug. Ich mache mir Sorgen um die Ansichten eines Typen, der meiner Ansicht nach sehr suspekt ist. Ich wünschte, ich könnte sie vor allem beschützen. Ich fühle mich verletzlich, mein Selbstwertgefühl ist nicht auf dem Level, auf dem es sein sollte. Dementsprechend vorsichtiger und verschlossener bin ich. Ich hab Lust auf neue Dinge, aber ich kann mich nicht dazu aufraffen.
Ich sehe die ganzen Auslandsstudenten und will das selbe machen. Aber ich habe Angst davor. Und ihr Abschied berührte mich so sehr, obwohl ich sie gar nicht so gut kannte. Wie bitter würde mein Abschied sein?
Ich versuchte, mein mangelndes Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein mit Körpersprache wett zumachen. Die Wirkung war erstaunlich. Das Mittagessen mit Joschua war ganz nett. Ich wartete am Brunnen vor der Uni auf ihn und hörte "Hard to forget". Er kam einige Minuten zu spät. Er führte mich in eine kroatische Kneipe, in der wir zwischen lauter kostümierten Leuten gerade noch einen kleinen Tisch ergattern konnten. Das Essen war in Ordnung, ebenso wie unsere Gespräche.  Vielleicht lag es an meiner Stimmung, aber wir hatten schon bessere Konversationen. In diesem Moment empfand ich es ein wenig als Zeitverschwendung. Eigentlich wollte ich allein sein. Nachdem wir gezahlt hatten, machten wir uns auf den Weg. Er musste zurück in die Uni, ich entfloh der kostümierten Menschenmasse und ging in einen Buchladen. Das hatte ich gebraucht. Buchläden geben mir so ein beruhigendes Gefühl. Ich schlenderte durch die Genres und Reihen. Ich hatte bereits "Drei Frauen" und die Bibel in der Hand, und schlenderte völlig in Gedanken versunken weiter. Plötzlich bemerkte ich, dass ich so direkt einem Mann und einer Frau vor die Nase lief und sie davon abhielt, die Bücher zu studieren. Ich war ihnen ein verlegenes und entschuldigendes Lächeln zu und hatte für den Bruchteil einer Sekunde Augenkontakt mit dem Mann. Ich sah verlegen zu Boden und wollte weiter eilen und zurück in meine Gedankenwelt. Er zog sich die Kopfhörer aus den Ohren und sprach mich lächelnd mit "Du hast dir ja einen dicken Wälzer ausgesucht" an. Ich war überrascht, überfordert, meine Wangen wurden heiß. Ich blickte auf die Bibel und antwortete lachend. Wir sprachen ein wenig, er war süß, aber die Bibel schien ihn abgeschreckt zu haben. Renn, Junge. Wir verabschiedeten uns, ich ging weiter durch die Regale, immer noch ein wenig verwirrt. Hatte diese Minisekunde Augenkontakt dazu geführt, dass er mich angesprochen hat? Ich bin nicht gut in Augenkontakt mit fremden Menschen. Ich versuche daran zu arbeiten, aber es ist echt nicht leicht. In der Öffentlichkeit will ich eher meine Ruhe haben, weshalb ich Augenkontakt vermeide.
Ich bezahlte meine Bücher und ging zur U-Bahn. Ich hörte wieder "Hard to forget" ein bisschen lauter als es angenehm war und versuchte meine Stimmung mit Körpersprache zu übertünchen. Ich zog meine Schultern zurück, ging selbstbewusst und hob das Kinn ein Stück höher als es normal war. Dieser Kinntrick ist krass. Ein Typ hielt mich auf dem Weg zur U-Bahn auf. Darauf hatte ich es nicht angelegt, ich wollte nur mir selbst ein besseres Gefühl geben. Kurzer Smalltalk, der zu nichts führte. Ich stieg in die U-Bahn und beschloss, Augenkontakt erstmal zu vermeiden. Zu Hause gekommen, aß und las ich und schlief ein bisschen. Abends war wieder Karaoke angesagt und ich hatte überhaupt keine Lust. Ich fühlte mich so scheiße. Aber ich wusste, dass es nicht besser war, daheim zu bleiben und zu grübeln, also zwang ich mich unter Leute. Wir trafen uns bei Fredrik. Ophélie öffnete mir dke Tür. Schwarzer Lippenstift, dunkel nachgezeichnete Augenbrauen, rostroter Liedschatten, schwarzer Eyeliner. Sie sah so gut aus. Außer ihr und Fredrik waren noch Kate aus Indiana und Mario aus Italien da. Später kamen noch Daniele und Tal. Ophélie und Fredrik kochten Hühnchen und Reis, die anderen tranken. Ich trank nichts, weil ich immer noch mit Schwindelanfällen zu kämpfen hatte. Es war echt nett. Wir redeten über Trump, über die schönsten Orte Italiens, über Ophélies und Fredrik Wohnsituation  (sie ist vorübergehend bei ihm eingezogen und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie jetzt offiziell zusammen sind)...
Ophélie zeigte mit zwei Musicals, die sie liebte. Hamilton und Notre Dame de Paris.
Irgendwann beschlossen wir in Richtung Karaokebar zu gehen. Ich hatte eine gute Zeit, aber trotzdem fühlte ich mich nicht gut.
Mario und Danielle erzählten mir von dem perfekten Rezept für Spaghetti Carbonara (das sich um ein Ei von dem von Pietro unterschied). Da Ophélie und Fredrik noch rauchten, warteten wir vor der Karaokebar. Drei Typen sprachen uns an und fragten, woher wir kamen. Nachdem Ophélie "Canada" und Fredrik "Norway" gesagt hatten, antwortete ich mit "Germany", woraufhin einer der Typen lachte und mit Akzent "Kartoffel" sagte. Ich dachte, er würde kein Deutsch sprechen, deswegen sagte ich ganz einfallsreich, spaßhalber und überaus ladylike "Halt's Maul". Der Typ lachte, entgegnete irgendwas Freches. Aus Spaß ging ich auf ihn zu, öffnete meine Jacke und sagte:"Wenn du dich schlagen willst, komm her!" Der Typ spielte mit, Ophélie und Fredrik lachten schallend. Ich hörte, wie Ophélie zu Fredrik sagte:"She's so cool, I love her!"
Nach ein wenig Smalltalk mit den Typen, gingen wir in die Bar. Wir legten unsere Jacken ab und gingen vor zur Bühne. Daniele trug sich für ungefähr 20 Lieder ein, weil es sein letzter Abend in der Stadt war. Morgen würde er den Flug nach Mailand nehmen und nach sechs Stunden Autofahrt in seiner Heimatstadt ankommen. Die anderen holten sich ein Bier. Mario überredete mich, mir auch eins zu holen. Erst zögerte ich, dann sagte ich "Fuck it!" und ging zur Bar. Ich wusste, dass es keine gute Idee war, aber wie ich es schon das ganze Semester lang tat, tat ich es trotzdem. Daniele und Fredrik sangen, ebenso Ophélie und Fredrik. Natürlich versuchte man mich wieder zu überreden, auch zu singen. Ich weigerte mich, bis Ophélie einen Kompromiss vorschlug: Wir würden beide zusammen eine Woche lang üben, uns betrinken und dann singen. Das konnte ich mir eher vorstellen. Irgendwann überredete mich auch Fredrik mit ihm zu singen. Wenn Ophélie in Frankreich war. Sie würde Anfang März für vier Wochen einen Teil ihrer Familie dort besuchen. Aus Spaß sagte ich Fredrik, wir sollten etwas von Taylor Swift singen.
Er:"Yes!! The queen herself!! What about Blank Space?"
Ich schlug ein. Er war so cool.
Wir machten Fotos, Ophélie und ich erklärten uns unsere Liebe erneut, wir tranken, sangen und wogen uns zur Musik. Ich wusste, dass es später war, als es hätte sein sollen, aber ich wollte einfach alles vergessen. Insbesondere meine harten Gedanken. Also schob ich die gedankliche Rechnung, wie viele (oder eher wenige) Stunden Schlaf ich heute bekommen würde, weit von mir.
Ich trank mein Bier und sah zur Bar, zu der Stelle, an der ich im Oktober mit Pietro stand, seine Arme waren von hinten um meine Taille geschlungen. Mittlerweile hatte er wahrscheinlich die Stadt verlassen. Ich werde ihn vermutlich nie wieder sehen und das ist auch besser so. Lediglich ein paar Polaroids, ein Blockblatt und ein Zettel, die ich in einer Schublade verstaut hatte, würden an ihn erinnern. Ich frage mich, ob er sein Polaroid noch im Portemonnaie hat. Ich hatte eine gute Zeit und obwohl er nicht gut für mich war, war es unterhaltsam. Eine Erfahrung aus der ich definitiv gelernt habe. Ich wünsche ihm alles Gute für die Zukunft. Ich hoffe, dass er irgendwann alleine glücklich ist.
Ich sah zu der Stelle, versunken in den Rückblick.
Das ist der Abschied.
Ich ließ ihn gehen.
Mario lachte über meinen verträumten Gesichtsausdruck und fragte, ob ich an Ophélies Hühnchen dachte, das wirklich gut geschmeckt hat. Ich ließ die Vergangenheit Vergangenheit sein und kam zurück in die Gegenwart. Ophélie, Fredrik und ich sangen lauthals mit. Daniele kam mich einer blinkenden Herzchensonnenbrille zurück, die ihm ein Spanier geliehen hat. Irgendwann kündigte der Moderator das Ende der Nacht an. Mittlerweile war es nach eins. Er sang das letzte Lied und wir gingen zu unseren Jacken. Die Typen von vorher waren wieder da und so erfuhr ich, dass der eine tatsächlich Deutsch sprach. Wir unterhielten uns ganz nett, dann gingen wir zur U-Bahn. Daniele verabschiedete sich. Er drückte mich fest an sich und wünschte mir alles Gute für die Zukunft. Obwohl ich ihn nicht besonders gut kannte, war ich trotzdem traurig. Dieser Abschied war irgendwie bitter. Ich sah Daniele und Mario nach, wie sie gingen. Plötzlich kam der Typ von vorher wieder an. Er fragte mich, ob er meine Nummer haben kann. Ich fühlte mich immer noch schlecht, verwirrt und komisch.
"Wozu?", fragte ich.
"Ich finde dich interessant."
All die Komplimente, die ich heute bekommen hatte, besserten meine Stimmung nicht im geringsten. Von "Schöne Stiefel" über "Du bist hübsch" bis "You're one of the coolest people I've ever met" und "Your english is so good,  thought you studied some time abroad". Man kann ein inneres Problem nicht mit äußeren Dingen wie Komplimenten lösen. Es muss von einem selbst kommen. Deshalb gab ich ihm auch nicht meine Nummer. Ich wusste, dass ich erst wieder selbst mit mir klar kommen musste, bevor ich mich mit irgendwelchen Typen traf.
Ophélie, Fredrik, Kate und ich stiegen in die U-Bahn. Wir hatten ziemlich viel Spaß. Kate und ich hatten den selben Nachhauseweg und obwohl sie echt nett war, wäre ich lieber alleine gewesen. Die Melancholie kam zurück, als ich zu Hause war. Ich schminkte mich ab und machte mich bettfertig, aber ich konnte nicht schlafen. Meine Muskeln waren angespannt, mein Herz raste und tausend Gedanken schwirrten mir durch den Kopf. Schlussendlich hatte ich vielleicht eineinhalb Stunden geschlafen.

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