Dienstag, 5. November 2019
My Baby's fly like a jet stream, high above the whole scene
Das hatte ich nicht erwartet.
Ich versuche momentan mein Temperament zu zügeln, überlegt zu handeln und alles rational zu hinterfragen.
Emotionen bleiben dabei weitgehend außen vor.
Ich war am Wochenende in einem Musical. Eigentlich wollte ich es nie sehen, weil ich befürchtete, dass es meine Bild von ihm verändern könnte. Meine Vorstellung von ihm beruht auf einem Wissen, dass ich mir mit Hilfe von Sachbüchern angeeignet habe.
Ich bin praktisch mit seinen Geschichten groß geworden. An ein Leben ohne ihn kann ich mich nicht erinnern. Es wurde mir in die Wiege gelegt.
Der Grund, warum ich mich zu ihm so hingezogen fühlte, lag wohl in der Widersprüchlichkeit seines Charakters. Ebenso wie meines. Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der in sich so gegensätzlich ist wie ich. Es ist tröstlich zu wissen, dass jemand - auch wenn es vor langer Zeit war - ganz ähnlich gefühlt hat. Nur schien er diese Zerrissenheit nie wirklich überwunden zu haben.
Gefangen in einer Welt, die an strengen moralischen Traditionen festhielt, während er sich von ihr verstoßen fühlte. Nur weil er fühlte, was er fühlte.
Eine bodenständige Gesellschaft, für die seine Zukunftsvisionen wie Spinnereien schienen. Er war seiner Zeit voraus.
Die Kunst, der er sich widmete, sein einziger Trost, während andere von ihm verlangten, in den Krieg zu ziehen.
Die Kunst, die einzige Möglichkeit, die er immer und immer wieder nutzte, um der Realität zu entfliehen.
Die Einsamkeit, die er irgendwann so sehr zu lieben begann, dass er die Anwesenheit von Menschen verabscheute.
Bis zu diesem Wochenende war mir gar nicht bewusst, wie einsam er wirklich gewesen sein musste. Weil die wenigsten ihn verstanden. Hätte ich ihn verstanden?
Ich hatte gute Dinge über das Stück gehört. Meine Erwartungen waren nicht allzu hoch, da ich wusste, dass ich sehr kritisch sein konnte.
Ich weiß nicht, wann meine Erwartungen das letzte Mal so übertroffen wurden.
Ein unglaublich tolles und modernes Bühnenbild, wundervolle Musik, grandiose Schauspieler und eine Geschichte, die Raum für eigene Interpretation lies.
Ich denke, es lag an der Musik und den Schauspielern, die Gefühle extrem gut transportieren konnten. Denn: Ich weinte. Ich weinte und weinte und weinte.
Nicht, weil es so traurig war. Ich weinte, weil es bedrückend war, romantisch, würdevoll, einsam, trotzig, brüderlich und verräterisch.
Mir wurden zwei Dinge bewusst:
1. Man sollte niemals gegen sein Gewissen handeln. Man könnte eine Kettenreaktion unbekannten Ausmaßes auslösen.
2. Ich weinte, weil ich mich durch die Geschichte an Emotionen erinnerte, die ich selbst einmal gefühlt hab oder die ich fühlen würde, wäre ich in der selben Situation.
Ich konnte mich sehr gut in den Protagonisten hineinversetzen, aber auch in Nebenrollen. Ich fühlte, was sie fühlten.
Ich hatte die Befürchtung, dass diese schon etwas romantisierte Version meine eigene beeinflussen könnte und ich mich womöglich sogar in den Protagonisten auf der Bühne verlieben könnte. Erstaunlicherweise war dem nicht so. Ich konnte die Version des Regisseurs sehr gut von meiner eigenen trennen.
Nach dem der Vorhang fiel, die Menschen von ihren Sitzen sprangen und ein tosender Applaus auf die Darsteller herabregnete, war ich nervlich ziemlich durch. Ich wurde sehr nachdenklich. War es gut, Emotionen so weit es ging außen vor zu lassen?
Leben wir nicht für die Emotionen?
Aber würde ich sie in einem solchen Extrema zulassen, müsste ich sowohl die positiven als auch die negativen Emotionen zulassen. Das würde einen einzigen sturm-und-drängerischen Höhen- und Tiefflug bedeuten. Das wäre sehr nervenaufreibend und ich würde mich selbst nicht so gut verstehen, wenn ich die Emotionen nicht hinterfragen würde.
Wollte ich jemanden, der derartige Emotionen in mir auslöste?
Die positiven vielleicht. Die negativen auf gar keinen Fall. Das entzöge mir jegliche Kontrolle.
Ich bin seit einiger Zeit davon überzeugt, dass Rationalität das Einzige ist, was mich weiterbringt und schützt.
An diesem Wochenende geriet diese Überzeugung ein wenig ins Wanken.

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